Karola Paetzmann Karola Paetzmann

Der Zauber der schwarzen Kabelbündel

(…) Die namhaftesten Attraktionen einer Stadt laden oft am wenigsten zum Verweilen ein. Obwohl wir Mitte Februar haben, bersten die angesagten Spots vor Touristen. Doch auch hier gilt glücklicherweise das „Teneriffa-Prinzip“. Dieses besagt, dass Gleichgesinnte unter sich bleiben und auch in der Fremde mit möglichst wenig Fremdem konfrontiert werden möchten. Entfernt man sich also nur einige Meter vom Ofen, wird aus der zischenden Glut eine angenehm prickelnde gesellschaftliche Wärme, die einen durch die weiteren Stadtviertel trägt. Dafür reicht es oft, von der Hauptader auf die nächste Parallelstraße auszuweichen.  (…)

Nr. 1 / Die Trambahn Nr. 547 in Mouraria

Eins

Ich schließe die Augen, wünsch’ mir was, und dann puste ich das Kerzchen auf dem Törtchen mit den Früchtchen aus, das mir auf dem weiß gedeckten Servierwagen über den weichen Teppich bis vor das Bett gerollt wird. Allein für die Strecke zwischen Sofa und Bett benötigt Ana vom Roomservice gefühlte fünf Minuten, wobei sie sich freut und lacht, als habe sie selber Geburtstag. Bis sie andockt, habe ich mir die Siesta aus den Augen gerieben, und dann strahlen wir um die Wette, die junge Angolanerin mit dem frischen Teint, die semifrische Deutsche - und Richard. Der strahlt ganz besonders, weil sich seine Vermutung bestätigt, man halte uns für erfolgreiche Influencer.

Als wir am späten Nachmittag des 15. Februar im Hotel Tivoli einchecken, wird uns nämlich ungefragt ein „Triple Upgrade“ angeboten. Was es nicht alles gibt. Ich bin erst einmal skeptisch: Wie armselig mag das ursprüngliche Zimmer gewesen sein, wenn wir gleich drei Kategorien höher einquartiert werden? Und gibt es auch noch Steigerungen zum „Triple Upgrade“ oder kann die keiner mehr aussprechen? Richards Theorie wiederum würde erklären, warum unser Zimmer ausreichend Platz für den Aufbau eines professionellen Fotostudios bietet und durch seine zurückhaltende Eleganz zweifellos alle Gegenstände aufs begehrenswerteste in Szene setzen würde - hätten wir denn welche dabei. Leider haben es unsere Koffer jedoch nicht bis nach Lissabon geschafft. 

Nr. 2 / Geburtstagsüberraschung im Hotel Tivoli Avenida Liberdade

Zwei

Der Multiplikator weiß sich schnell zu helfen. Er stellt nur kurz seinen Rucksack ab und zieht dann los, um das Nötigste einzukaufen. In meinem Geburtsjahr dachte man dabei noch an ein sauberes Gebiss in einem wohlriechenden Körper. 2023 denkt man an Ladekabel. So können wir allen gleich erzählen, dass wir schon an Lektion 1 des Reisens, nämlich immer alles Notwendige für eine Nacht im Handgepäck mitzuführen, gescheitert sind. Wir müssen aber auch deswegen die Technik zuerst versorgen, weil wir uns nur so bei der Fluggesellschaft erkundigen können, wohin Zahnpasta und Deo denn geflogen sind, oder ob sie nicht ahnend, wo sich Frauchen und Herrchen inzwischen aufhalten, noch mit fremden Drogerieartikeln in den Katakomben von Franz-Josef-Strauß kuscheln. Immerhin habe ich meinen Schmuck dabei - so doof bin ich dann auch nicht, meine Preziosen der Münchner IT anzuvertrauen - und für das Gesicht tut es auch eine gute Handcreme. Damit sehe ich beim Dinner wenigstens nicht mehr aus, als habe man mich über Nacht im Dörrgerät vergessen.

Am späten Vormittag des 16. Februar sind die Devices geladen, ich habe meine schwarzen Winterstiefel gegen caipirinafarbene Sneaker mit 1A-Lissabon-Profil eingetauscht und strebe nun in einer feschen Seemannsjacke branded in Portugal, designed in Spain, made in China & financed by Lufthansa Richtung Meer. Es ist jedoch weniger der Entdeckergeist als der Hunger, der uns die Av. da Liberdade hinunter zum Tajo, dann nach rechts Richtung Bairro Alto und dort wieder nach rechts den Berg hinauf treibt. Die nächsten Tage werden wir uns diesem geometrischen Muster folgend durch die schöne, hügelige Stadt bewegen, oder wie man auf Bayrisch sagen würde:  obi, firi, auffi, firi, umi, eini. Bei „eini“ gibt es meist etwas zu essen und zu trinken. Entweder eine vollständige Mahlzeit oder ein Pastei de Nata und  ein  Bica - das ist der locale Espresso.

Beim Streunen durch Lissabons Gassen schlendere ich immer wieder hinter Portugiesinnen her, deren langes dunkles Haar sich um eine sehr schmale Taille schmiegt, bevor es auf einem gut konturierten Popo zum liegen kommt. Daraus schließe ich, dass das Pastei de Nata die einzige Süßspeise sein muss, die ihr Lager nicht im Bauch aufschlägt und hoffe, durch den gesteigerten Konsum der kleinen Delikatessen mit der angestrebten Statik nach Hause zu kommen, also mit mehr Konturen hinten als vorne. Dass das Experiment misslingt, mag an dem unwiderstehlichen Angebot an weiteren schmackhaften portugiesischen Speisen liegen. In ihrer Vielseitigkeit und der Originalität ihrer Zusammenstellung erinnern die Gerichte an die köstliche und überraschungsreiche peruanische Küche. Spannende Locations,  ästhetisch angerichtete Teller, herzlicher Service und angemessene Preise sorgen für den vollendeten Genuss. Daher ist das Betrüblichste, was einem in Lissabon passieren kann, fehlender Appetit. Es passen einfach nicht genügend Mahlzeiten zwischen die Pastei-Bica-Intermezzi.

Nr. 3 / Mil folhas de caramelo salgado im Restaurant Palácio Chiado

Drei

Die namhaftesten Attraktionen einer Stadt laden oft am wenigsten zum Verweilen ein. Obwohl wir Mitte Februar haben, bersten die angesagten Spots vor Touristen. Doch auch hier gilt glücklicherweise das „Teneriffa-Prinzip“. Dieses besagt, dass Gleichgesinnte unter sich bleiben und auch in der Fremde mit möglichst wenig Fremdem konfrontiert werden möchten. Entfernt man sich also nur einige Meter vom Ofen, wird aus der zischenden Glut eine angenehm prickelnde gesellschaftliche Wärme, die einen durch die weiteren Stadtviertel trägt. Dafür reicht es oft, von der Hauptader auf die nächste Parallelstraße auszuweichen.

Die meisten Touristen scheinen einen ganz bestimmten Grund zu verfolgen, in eine Stadt zu reisen. Einige kommen zum Shoppen, wobei sie von dem sogenannten „Filialisierungsgrad“ profitieren. Dieses Phänomen hat zur Folge, dass man in manchen Straßenzügen nicht mehr weiß, in welcher Stadt, ja gar in welchem Land man sich befindet. Der große Teil der Einkaufslustigen strömt in die - ich nenne sie mal „Starbucks-H&M-Gassen“;  wer sich hingegen zu den Reichen und Superreichen zählt, lässt sich zu den Avenuen mit den Luxusboutiquen fahren. Glücklicherweise für die Klientele kommt so ein Louis Vuitton Logo ja selten allein daher, da sind die Guccis und Diors, die Burberrys und Pradas nicht weit weg. In den angesagten Malls und Kaufhäusern treffen beide Gruppen aufeinander, wobei sie die Naiven und Leichtsinnigen, die sich aus reiner Neugierde oder weil ihnen draußen zu kalt oder zu warm geworden ist, in diesen Locations ziellos tummeln, in ihrem Shoppingwahn zwischen sich zu zerreiben drohen. Andere Besucher kommen nach Lissabon, um sich an schönen Orten abzulichten. Dabei wird ihnen die Entscheidung, welche Orte schön sind, von Fachleuten abgenommen. Eine weitere Kaste ist hier, um sich durch die Sehenswürdigkeiten durchzuarbeiten und dank der berühmt-berüchtigten Tripadvisor-Geheimtipps Kontakte beim Schlangestehen vor Sonnenaufgang zu knüpfen. Und dann sind da noch die Querläufer. Vermutlich gibt es von unserer Gattung nicht weniger, wir verteilen uns nur gleichmäßiger. Für Touristen wie uns heißt der Spot Lissabon. Wir suchen das Fremde, wir wollen überrascht werden und unseren Erfahrungsschatz erweitern; wir wollen streunen, gassauf und gassab, gucken und staunen und von allem etwas haben.

Nr. 4 / Abendstimmung im Viertel Mouraria

Vier

Meine Fotos sind wie Wimmelbilder. Es fällt mir schwer, die Ausschnitte zu bestimmen. Ich möchte alles behalten, auf nichts verzichten. Der Anziehungskraft des Verfalls, des Unaufgeräumten, des Verjährten und Unsymetrischen der alten Stadtviertel Lissabons kann ich nicht widerstehen. Das kenne ich bereits von Venedig.

Spricht man davon, dass München leuchtet, geht diese Vorstellung meist mit einem strahlend blauend Himmel einher. Die Hauptstadt Portugals lächelt einen jedoch auch nachts und bei Regen an, denn sie glänzt auch von unten und von den Seiten.

Besonders traulich ist die Stimmung in der Baixa am späten Abend, wenn die Restaurants im Herzen der Stadt schließen. Die Kellner tragen die letzten Gläser hinein, falten die Tischdecken zusammen und schäkern beim Stühle-Stapeln mit den Kolleginnen des Cafés nebenan. Auf den nun nahezu menschenleeren, großzügigen Einkaufsstraßen spiegelt sich das warme Licht der Straßenlaternen in den samtig schimmernden Steinchen des Bodenpflasters. Auf dem Rückweg vom Meer durch das prachtvolle Viertel breiten sich immer wieder neue Mosaikwelten in schwarz und weiß vor uns aus. Wir überqueren mit geometrischen Mustern überzogene Plätze und setzen unsere Füße in Blumengebilde, die sich auf den Gehwegen mit Arabesken und einer Vielzahl weiterer Ornamente abwechseln. In anderen Stadtvierteln wie der Mouraria hingegen überwiegt das raue Pflaster, grob verlegt und unregelmäßig aufgeworfen. Die Bürgersteige sind gepflastert, die Treppen sind es und die Gassen sind es sowieso.

Es lohnt sich in Lissabon jedoch nicht nur genau zu schauen, wohin man seinen Fuß setzt. Hebe ich den Kopf, gleitet der Blick von den calçadas portuguesas am Boden zu den azulejos, diesen kunstvollen, mit den hübschesten Ornamenten geschmückten Fliesen, deren Pracht sich über die Fassaden ganzer Straßenzüge ergießt. Durchbrochen werden die stilvollen Fliesenteppiche durch die zierlichen, schmiedeeisernen Geländer der Balkone, auf denen Grünpflanzen - und wunderlicherweise auch immer wieder zum Trocknen ausgebreitete Neoprenanzüge - weitere Farbakzente setzen. Man möchte die glänzenden Kacheln in Lapa und Santos  nicht nur mit den Augen sondern auch mit den Händen streicheln. Ein Gedanke der mich in Kreuzberg und auch sonst in keiner Stadt der Welt bisher je gestreift hat, also dem Außenputz mal „Ei-ei“ zu machen. Ja pfuideifi.

Doch will ich nach diesem kurzen unappetitlichen Gedankenausfall schnell wieder in die schimmernde Stadt eintauchen, zurück in die alten Viertel Lissabons kehren und noch einen Moment vor den gekachelten Fassaden verweilen. Beim erneuten Betrachten verfängt sich mein Blick in den schweren, tiefschwarzen Stromkabel-Bündeln, die sich von Haus zu Haus wuchten. In Rio gab es das auch. Nur dass sich die Kabel dort auch noch wild von einer Straßenseite zur anderen spannten. Hier sind die Bündel säuberlich an die Fassaden getackert, zwischendrin findet sich ein Kabelkringel, ein Elektrokasten, und dann rennt das Bündel wieder aufi, firi & obi unter den Balkonen und die Hauswände entlang, die Hügel hinauf und wieder hinunter - und wir hinterher.

Nr. 5 / Schaufenster im Viertel Baixa

Fünf

Ich wache wie ausgewechselt auf. Innerlich licht und wie bunt gekachelt. Geboostert durch die Geburtstagsglückwünsche des gestrigen Tages und die Schönheit der Umgebung. All das umhüllt die anfangs noch blank liegenden Nerven, die sich zusehends entspannen, orientieren, ihre Ruhelage wieder finden und Vertrauen fassen.

Dazu trägt auch die natürliche Herzlichkeit bei, mit der man uns begegnet, und die einem so gut tut wie das helle Licht. Ich mag es, ab und zu mal an Orten zu sein, wo Menschen höflich und freundlich sind. Wo man sich in einer Schlange hinten anstellt und sich entschuldigt, wenn man sich versehentlich anrempelt.

Wir ziehen wieder los. Wie immer orientiert sich der Multiplikator an seinem Display und ich an den Straßenschildern. Meist finde ich schneller den Weg (meine Meinung). Nur wenn es darum geht, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von A nach B zu kommen, melde ich mich zum Wettkampf gar nicht erst an, denn darin ist Richard unschlagbar. Er lässt sich weder von Automaten aus der Fassung bringen, die mit chinesischen, japanischen oder kyrillischen Zeichen beschriftet sind, noch von den komplexesten Liniennetzgebilden. Er begreift sofort die Zahlungsmodalitäten, erkennt Bushaltestellen dort, wo ich nix sehe und findet sich in U-Bahn-Schächten zurecht, in denen ich eingeschüchtert am Händchen gehe. Automat ist Automat, Bus ist Bus und U-Bahn eben U-Bahn. Es ist ihm auch nicht so wichtig, wie man das anvisierte Transportmittel nennt. Da wird aus einem TukTuk schnell mal ein TikTok.

Nr. 6 / Herrschaften im Café Versailles in Belém

Sechs

Doch nun bin ich wieder zu Hause in Kreuzberg, und die nächste U-Bahn-Station heißt „Schönleinstraße“. Soll mal einer sagen, die Berliner hätten keinen Humor. Ach, wie gerne wäre ich jetzt immer noch dort, in Lissabon. Gerade würde die Zimmertür hinter uns ins Schloss fallen, wir würden mit dem Aufzug ins Erdgeschoss fahren, die blumengeschmückte Lobby durchschreiten und den uns zugewiesenen Platz im Frühstücksraum einnehmen. Vielleicht haben wir ja Glück und bekommen wieder das Tischchen an dem großen Fenster mit Blick auf die Av. da Liberdade und seine mit Ornamenten gepflasterten Mittelstreifen. Wir würden um das phantastische Frühstücksbüffet streifen, an diesem Morgen vielleicht mal links herum, uns wieder am Tisch treffen und überlegen, wonach uns heute ist.

Ich denke inzwischen übrigens, dass wir das Upgrade bekommen habe, weil Richard im Vorfeld auf meinen Geburtstag hingewiesen hat. Deswegen auch der prächtige Blumenstrauß auf dem Tisch, der auch am letzten Tag noch so frisch und fröhlich leuchtet, wie die Azulejos. Ich denke, ich bringe ein paar Vorlagen für die lokalen Graffitisprayer mit. Bestimmt kritzeln sie hier einfach nur deswegen so ungeschickt die Wände voll, weil ihnen die Anregungen fehlen. Ein Versuch ist es doch wert, oder?

Nr. 7 / In der Baixa am Abend

Weiterlesen